Weinchadeau bis zum Ende meiner Tage
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Meine Mutter und ich saßen am Tisch im Wohnzimmer. Sie hatte sich frisch gemacht. Der Arzt meiner Mutter kam zum Gespräch zu uns nach Hause. Es hatte fast etwas witziges. Dieser hagere Mann kam mit seinem Moped den steilen Hang herunter gefahren. Er war tatsächlich aus Wien nach Breitenfurt mit dem Moped gefahren. Meine Mutter hatte Vertrauen zu ihm. Er unterstützte das, was sie wollte. Und sie wollte ihren Tod. So saßen wir an diesem warmen Oktobervormittag alle gemeinsam bei Tisch - meine Mutter, mein Vater, der Arzt und ich. Unser Hund lag unter dem Tisch. Der Arzt sagte zu meiner Mutter: 'Wollen Sie mit mir alleine sprechen oder wollen Sie Ihre Familie dabei haben?' Meine Mutter antwortete: 'Wenn möglich, erklären Sie uns die Lage. Das Einzelgespräch wünsche ich mir danach?' 'Geht in Ordnung', sagte der Arzt. Er erklärte uns, dass der Tod meiner Mutter unausweichlich war. Die Werte sprachen eine eindeutige Sprache. Er rechnete mit ein bis vier Wochen. Wir hatten Mitte Oktober, der Herbst war bunter und farbenprächtiger als sonst. Die Sonne schien warm ins Zimmer. 'Wie wird mein Ende sein?' frage meine Mutter. Der Arzt erwiderte: 'Sie sind bereit. Somit gehe ich davon aus, dass Sie ruhig einschlafen werden. Ich werde mein bestes geben!' Mein Vater sprang auf: 'Ich wollte nie, dass Du nicht ins Krankenhaus gehst! Ich wollte, dass Du Dich abermals operieren lässt, Chemo machst - was auch immer. DU verlässt mich nicht einfach so! Du wirst elend ersticken! Ganz sicher! Lungenversagen und Erstickungstod! Ich weiß das und ALLE sagen das!' Mein Vater war außer sich - wie konnte sie ihm das antun. Ich verstand meine Mutter. Sie hatte genug. Genug von der Chemotherapie, genug von der Hoffnung auf Heilung, genug vom Kampf, genug vor der Angst vor dem Tod. Sie sagte: 'Ich schaue dem Tod gerne in die Augen. Er kommt und das ist gut so.' Mein Vater sagte: 'Ich mache alles für Dich, damit Du bei mir bleibst'. Meine Mutter entgegnete: 'Es ist zu spät. Ich habe meinen Weg gewählt. Egal, was Du tust - ich sterbe. Nicht jetzt, aber vielleicht morgen, übermorgen, in einer Woche - es ist absehbar. Und ich habe einen Wunsch! Mach' mir täglich bis zu meinem Tod ein Weinchadeau - ich liebe es!' Mein Vater war außer sich und stürmte aus dem Zimmer. Ich blieb. Meine Mutter wirkte so stark und zerbrechlich zugleich. Sie lächelte mich an. Sie wusste, was sie zu tun hatte. Sie bat mich zu gehen, um mit dem Arzt alleine zu reden. Sie hat mir nie von diesem Gespräch erzählt. Wenig später brachte ich sie in ihr Zimmer, setzte mich an ihr Bett und stellte wie immer meine Frage: 'Was bedeutet das Coronavirus für mich?' Sie hielt inne, lächelte und sagte: 'Es betrifft mich nicht. Aber Dich. Und Deine Kinder. Sei wachsam. Habe keine Angst. Es gibt mehr, als Du siehst und mehr, als Du denkst. Es wird nicht gut, es IST gut. Hab' Vertrauen - so wie ich. Wir sind beide Reisende ins Ungewisse.'
Meine Mutter starb am 13.11.1985 mit 55 Jahren. Todesursache: Lungenversagen durch Lungenkrebs
© Michaela Schmitz 2020-05-04
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