Die Stör
- 104

Mit Kleidern und mit nähen hatte ich nie viel am Hut. Bereits als kleiner Knirps nicht. Ganz im Gegensatz zu meiner Mutter, die modische Kleider liebte und diese auch bei einer Schneiderin nähen liess. Ab und zu nähte sich meine Mutter selbst ein Kleid. Der ganze Tisch war üblicherweise belegt mit Stoff, darauf knisterndes dünnes Papier, voll mit wilden, kreuz und quer verlaufenden Linien und Kurven, längs denen der Stoff ausgeschnitten wurde. Schnittmuster. Wie zum Kuckuck gibt es Leute, die aus solchen wirren Linien, aus solchem Durcheinander, sich genau vorstellen können, wie das Kleid oder was auch immer aussehen würde?
Im gleichen Raum wie der Tisch stand ein nüchternes Möbel aus Nussbaumholz, das ich sehr liebte, weil sich darin eine Nähmaschine versteckte, die ich als Knirps mit grossem Kraftaufwand hervor kippen konnte. Diese wunderbare Nähmaschine Marke Pfaff war für mich ein herrliches Spielzeug. Ich lernte, wie man den Faden auf kompliziertem Weg von der Spule oben bis in die Nähnadel unten einfädelte, übte diese Handgriffe noch und noch und immer schneller und schneller. Ein Wettrennen mit mir selbst. Rassig war auch, am Handrad zu drehen und mit dem Fuss das Pedal möglichst rasch zu bedienen. Am echten Nähen hatte ich kein Interesse, der Unterfaden liess mich kalt.
Ab und zu kam eine Schneiderin, Frau Lüdi hiess sie, zu uns auf Stör, nähte und flickte stundenlang Wäsche und anderes. Sie war eher klein von Statur, sehr freundlich, tüchtig und stumm. Allerdings nicht ganz stumm. Sie konnte wohl sprechen, aber die Stimme der Guten war sehr hoch, in der Tonlage schwankend und klang krähend, ähnlich einem ungeölten Gartentor. Ihre Worte waren für mich kaum verständlich. Das fanden wir Kleinen, also meine Schwester und ich, derart komisch, dass wir nur mit grosser Mühe lautes Lachen unterdrücken konnten. Unsere Mutter strafte uns jeweils mit allerstrengsten Blicken. Sie selbst konnte sich gut mit der Schneiderin unterhalten.
Wenn der Ehemann von Frau Lüdi sie nach getaner Arbeit abholte, hatten wir nochmals ein Riesengaudi. Herr Lüdi war nämlich auch Schneider und genauso stumm wie seine Frau, nur dass seine Stimme und Worte breit lallend aus seinem Mund flossen. Lang gezogene, tiefe Töne, für uns Kleinen auch völlig unverständlich. Getoppt wurde das ganze, wenn das Ehepaar Lüdi sich untereinander unterhielt. Sie hoch krähend, er dunkel lallend. Es klang in unseren Ohren als stritten sie sich in allen Tonlagen. Aber nein, sie hielten nur normale Konversation. Gegenseitig verstanden sie sich problemlos. Uns war es einfach unmöglich, ernst zu bleiben. Wir krochen unter den Tisch, platzten fast vor Lachen, stopften irgendein weiches Ding in den Mund damit unser Glucksen weniger hörbar wurde. Bestimmt bemerkten die Lüdis unsere Unhöflichkeit, liessen sich aber grosszügig nichts anmerken.
Wie konnten wir nur (vielleicht wie alle in diesem Alter?), ohne es zu merken, so respektlos und beleidigend sein!
© Sandro Kaspar 2023-02-04
Kommentare
Jede*r Autor*in freut sich über Feedback! Registriere dich kostenlos,
um einen Kommentar zu hinterlassen.