Chagall in Lindau
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Ein Löwe, mitten auf dem Wasser, etwa eine Fata Morgana? Ich sehe noch einmal genau hin und reibe mir wie Schlafsand das schemenhafte Bild der aus Stein gemeißelten Raubkatze, das immer näher kommt, aus den Augenwinkeln. Während der bayrische Löwe die prächtige Hafeneinfahrt von Lindau bewacht, erhebt sich der schlanke Leuchtturm des Hafens über die spiegelglatte Oberfläche des Bodensees und lotst die Schiffe während der Nachtstunden sicher zu den Anlegestellen.
Wir beobachten vom Mitteldeck des Linienschiffes, das auf den verwegenen Namen Grad Zeppelin getauft wurde, die historisch geprägte Ansicht des Städtchens Lindau. Rudolf von Habsburgs ehemalige Reichsstadt verströmt durch ihre steinerne Befestigungsanlage und den Wachttürmen auch heute noch ein mittelalterliches Flair. Vor dem Mangturm, der vor dem Bau des heutigen Leuchtturms die Schiffe vor Untiefen warnte, wirft eine mit bunten Federn geschmückte Papagena, die noch dazu auf Stelzen balanciert, Keulen in die Luft.
In der schönen Altstadt im Stadtteil Insel leuchten uns auf bunten Plakaten Chagalls farbenprächtige Blumenbilder entgegen. Dieser Verlockung kann ich nicht widerstehen und da das Kunstmuseum nur unweit der Hafenanlage zu finden ist, lösen wir auch schon unsere Tickets für die Ausstellung. Jede einzelne von Chagalls Lithographien und Gouache Zeichnungen ist beleuchtet und die Strahlkraft der bunten Farben wird somit im schwarz drapierten Saal perfekt in Szene gesetzt. Ich versinke träumend in den Gemälden “Der große violette Gladiolenstraß vor dem Fenster” und das Liebespaar mit dem Nelkenstrauß in Grün" und finde mich als stille Beobachterin in Chagalls Paradiesischen Gärten wieder.
Als wir wieder aus dem künstlichen Dunkel in den hellen Empfangsbereich wechseln endet die heile Welt jäh. Eine ältere Besucherin liegt blutend am Boden, vermutlich aufgrund eines Kreislaufkollapses. Ich eile zur Hilfe, doch ihre Begleiterinnen kümmern sich bereits um sie und die Rettung ist auch schon verständigt.
Als wir zur Anlegestelle kommen, ist unser Schiff schon ohne uns ausgelaufen. Die dreistündige Wartezeit auf das nächste Boot zurück nach Bregenz überbrücken wir mit einem kostengünstigen Bahnticket der ÖBB. Im gemütlichen Zugabteil rattern wir die viel zu kurze Strecke entlang des ruhigen Bodensees wieder zurück in die Hauptstadt des Ländles.
Dort wandeln wir wie einst James Bond, nur nicht in Geheimmission seiner Majestät, auf den Tribünenrängen des Festspielhauses mit Blick auf die leider schon der Kulisse beraubten Seebühne. Der Fluch rund um Verdis Rigoletto hat sich bereits im Sommer erfüllt, uns bleibt nur noch ein Spaziergang im angrenzenden Ausstellungsgelände mit seinen kultivierten Blumenrabatten und großzügigen Grünflächen.
Bei der Rückfahrt nach Gaschurn hängen die Wolken tief und die Berge sehen aus, als hätten sie sich schon in Erwartung der kühleren Jahreszeit einen Schal ungebunden.
© Silvia Peiker 2021-09-29
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