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#1sommer1buch

Delfine im Klassenzimmer

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Delfine im Klassenzimmer | story.one

Martin, der schon als Vorschüler erste Schulerfahrungen gesammelt hatte und nun in meiner Gruppe gelandet war, hatte die Rolle des Kleinkindes noch nicht abgelegt. Zwar staunte ich über sein Wissen über die Tierwelt und über den menschlichen Körper, doch dieses hatte er sich mittels Fernsehdokumentationen angeeignet.

Die klugen Delfine liebte er über alles, und aus diesem Grund schlüpfte er immer wieder in die Rolle eines Delfinbabys. Sein Herz schlug nicht nur für die Meeressäugetiere, sondern auch für Verkehrsmittel wie Züge, U-Bahnen und Busse. Die roten Feuerwehrautos sowie die orangefarbenen Müllwägen hatten es ihm ebenfalls angetan. Bei Ausflügen musste man ihn stets fest an die Hand halten, denn wenn er eines dieser Fahrzeuge erspähte, musste man damit rechnen, dass er sich plötzlich losriss, um ohne nach links oder rechts zu schauen die Fahrbahn zu überqueren.

In der Lernstunde konnte ich ihn anfangs noch dazu bewegen, ein paar Buchstaben, Wörter oder Zahlen zu schreiben, wenn ich in die Rolle der Delfinmama schlüpfte. Dazu musste ich in der Delfinsprache mit ihm kommunizieren und das bedeutete, dass ich ständig "Bipbipbip" leise murmelte, um ihn zum Üben zu ermuntern. Martin antwortete freudestrahlend mit einem lauten "Bipbipbip", was natürlich während der Lernstunde sehr störend war. Das fanden seine KlassenkameradInnen und die LehrerInnen zuerst sehr seltsam, aber wir gewöhnten uns schließlich bald alle an diese eigenartige Form der Kommunikation.

Nach drei Monaten schließlich gab die Klassenlehrerin völlig entnervt auf, ihm durch gutes Zureden und reichlich Lob zum Mitarbeiten in den Schulstunden zu bewegen, da er auf jeglichen Druck mit schrillem Quietschen oder dem Imitieren einer Sirene reagierte. Im Werkunterricht füllte er flüssigen Klebstoff in die Spielzeugautos der Klassenlehrerin, anstatt einen Marienkäfer zu basteln.

An einem freundlichen Tag im April war ich gerade damit beschäftigt, erhitzte Gemüter auf dem Fußballfeld zu beruhigen. Da war es mir nicht aufgefallen, dass Justin seinen Freund Martin an die Stange des Basketballkorbes gefesselt hatte.

Ich gab mir Mühe, die vielen Schlingen der Springschnüre und die festen Knoten zu lösen, um den unwilligen Burschen vom Marterpfahl zu befreien. Doch das nützte wenig, denn das Kind klammerte sich fest an die Eisenstange, weil es den Schulgarten um keinen Preis verlassen wollte.

Die Frühlingssonne sandte ihre wärmenden Strahlen und der Wind blies die weißen Blüten des prächtigen Apfelbaumes durch den erblühenden Schulgarten. Warum sollte man diesen im Klassenzimmer verbringen, um den am Vormittag neu erlernten Stoff zu wiederholen? Es blieb mir schließlich nichts anderes übrig, als die Kinder meiner Gruppe in die Lernstunde zu schicken, um nach minutenlangem, gutem Zureden den unwilligen Burschen in das Schulgebäude zu tragen. An diesem Nachmittag blieben die Seiten seines Aufgabenheftes leider leer...

© Silvia Peiker 2020-08-28

eigenartigAlles Schule oder was

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