Ecken und Kanten
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Ich erinnere mich an abgeschlagenes Geschirr, Ecken und Kanten, die unser Leben erst interessant machen und uns zu einer unverwechselbaren Persönlichkeit werden lassen. Ich führe die Tasse meiner Großmutter an die Lippen, fühle eine Unebenheit, einen Cut im feinen Porzellan mit edlem, vergoldeten Zierrand.
Meine Gedanken mäandern wie ein Fluss zu Omas Hochzeitspräsent, das pinke Pfingstrosen zieren und für sechs Personen gedacht war, und lediglich zu feierlichen Anlässen aus der Küchenkredenz geholt wurde. Mit der Zungenspitze fahre ich vorsichtig am Rand entlang, bis ich den spitzen Zacken spüre, der vermutlich beim Geschirrspülen, das damals nicht so leicht von der Hand ging wie heute, ausgebrochen ist. Das Spülwasser musste Sommer wie Winter mit einem Eimer vom gemauerten Brunnen im Garten geholt werden und wir Kinder hatten unseren Spaß daran, abwechselnd den Pumpenschlegel zu schwingen. Ruckartig floss das kostbare Nass in den schweren, blechernen Kübel, wobei ein Nylonstrumpf, der über die Pipe gestülpt wurde, verhinderte, dass winzige Steinchen und brauner Sand das Grundwasser verunreinigten.
Die Gebrauchsspuren sind nun für alle Zeiten sichtbar und brandmarken die Kaffeetasse zu einem unverwechselbaren Unikat. Ich schwelge in Erinnerungen an Omas Buchteln mit Vanillesauce, die fein säuberlich auf den schönen Desserttellern, von denen leider nur noch zwei übrig sind, zur Jause angerichtet wurden.
Nach dem Abwasch liefen wir Kinder fröhlich hinters Haus, wo eine steile Hühnerteppe, dessen morsche Holzstufen sich zum Dachboden schraubten, darauf wartete, erklommen zu werden. Wenn meine Freundin Gusti mit von der Partie war, verwandelten sich unsere Ausflüge ins schummrige Dachgeschoß zu märchenhaften Theaterproben. Beflügelt von Ferdinand Raimunds DER ALPENKÖNIG UND DER MENDCHENFEIND oder dem VERSCHWENDER reimten und komponierten wir unsere eigenen Lieder, um diese gemäß der mittelalterlichen Lyriktradition mit unseren hellen Stimmen zu singen:
Der Himmel erhebt sich wie ein Zelt in der Nacht.
Kein Lüftchen bewegt sich, im Wald rauscht es sacht.
Eile, eile, immer weiter, eile, die Welt ruft.
Eile, eile in das Leben, denn das Glück dich sucht.
Oh sieh' tausend Sterne, sie weisen den Weg.
Sie führen dich sicher über Brücke und Steg.
Fort ach fort sind die Gefahren, wenn du nicht allein,
Und noch viele, viele Jahre wirst du glücklich sein.
Die Geister des Morgens vertreiben dann das Grau,
Sie entfachen ein Feuer, sprühen den Tau.
Nun glühet die Sonne, die Nacht ist vorbei
Das Leben erwachet, zieh' weiter aufs Neu'.
Unser Bühnendebüt fand unter den Dachsparren statt, wo Maiskolben baumelten und Omas getrocknete Lavendel- und Wildblumensträuße dufteten. Unser spärliches Publikum hatte es sich zwischen alten Truhen und geflochtenen Weidenkörben bequem gemacht, als wir die verstaubte Bühne eroberten und von Fantasia träumten.
Eigenes Foto: Albert Oehlen: U.D.O. 9
© Silvia Peiker 2022-05-29
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