Eins zwei drei im Sauseschritt
- 205

Kurz vor Mitternacht stelle ich mir folgende Fragen: Warum muss eigentlich immer das schlimmste Szenario in meinem Leben die Regie übernehmen? Ist mein Bett tatsächlich aus diesem einen Grund, den ich so fürchtete, nass?
Ein fiktiver Albtraum, aus dem ich hochschrecke, nur um in einem realen Albtraum mit geplatzter Fruchtblase aufzuwachen. Ich stupse den werdenden Vater neben mir panisch an: Aufwachen! Es ist so weit, die Tasche mit dem Nötigsten ist vorsorglich gepackt.
Meine Gedanken weilen bei den mahnenden Worten der Hebamme: Platzt die Fruchtblase, unter keinen Umständen, auch wenn man sprichwörtlich in anderen Umständen ist, aufstehen. Denn die Nabelschnur des Ungeborenen könnte vorrutschen und der Fötus ersticken. Das kommt zum Glück selten vor, aber Vorsicht ist die Mutter der Porzellankrippe.
Die Wehen, lediglich ein leichtes Zwicken im unteren Bauch, pulsieren schwach, kommen lediglich alle fünfzehn Minuten. Der Rettungswagen fährt in die stockdunkle, kalte Nacht, auf Wiens Straßen ist wenig Verkehr. Vom Ehebett ins Krankenbett. Das Fruchtwasser plätschert nicht mehr, der Muttermund ist nur leicht geöffnet, bis zur Geburt liegen noch viele Wehen, aber vor allem Stunden, vor mir. Ich lasse die homöopathischen Tabletten, die mir mein praktischer Arzt empfohlen hat, viertelstündlich unter meiner Zunge zergehen. Diese sollen den Geburtsvorgang beschleunigen, mein Gynäkologe ist skeptisch.
Weiterhin in der Waagrechten, der werdende Vater ist an meiner Seite. Wir vertreiben uns die Wartezeit mit Schnapsen und Würfelpoker. Sukzessive werden die Wehen stärker und die Abstände geringer. Endlich darf ich aufstehen, nur um mich nach einem Einlauf von unnötigem Ballast zu befreien. Ich watschle den kurzen Weg zum Kreißsaal wie ein Pinguin mit Plattfüßen, darf mich endlich wieder wie ein homo erectus fortbewegen.
Doch beinahe hätte ich mein erstes Kind unterwegs verloren, denn jetzt geht's richtig los. Die Krämpfe, die mich im Korridor ereilen, entpuppen sich als Presswehen. Ich hab' Glück, die junge, sympathische Hebamme vom Geburtsvorbereitungskurs ist noch im Dienst und hilft mir zuverlässig, gänzlich ohne ärztliche Hilfe, unsere wunderschöne Tochter im Eiltempo auf die Welt zu bringen. Denn mein Arzt, den die Krankenversicherung meiner Firma bezahlt, steckt fest in Wiens Feierabendverkehr. Dank Homöopathie bleiben mir stundenlange, heftige Wehen erspart.
Das Wunder der Geburt, meine kleine Prinzessin, bringt gerade zarte 2,72 kg auf die Waage und muss am nächsten Morgen, nachdem sie sich über Nacht in eine süße braungebrannte Minisquaw verwandelt hat, für mehrere Tage unters Blaulicht.
Des Meeres und der Liebe Wellen sprudeln wonnige Mutter- und Glücksgefühle durch meinen wieder erschlankten Körper. Die Segel der Mutterschaft sind gesetzt, der Geburtstag meiner Tochter nun für immer ein unauslöschlicher Moment und der Beginn meines neuen Lebens.
Eigenes Bild: Marc Chagall
© Silvia Peiker 2022-03-10
Kommentare
Jede*r Autor*in freut sich über Feedback! Registriere dich kostenlos,
um einen Kommentar zu hinterlassen.