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#kindheitserinnerungen

Haderlump

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Haderlump | story.one

Der Lumpensammler wird euch holen ! Noch heute löst dieses Wort bei mir Unbehagen aus. Der Haderlump mit seinem Fetzensack, der die abgetragene, verschlissene Bekleidung einsammelte, war für uns Kinder eine Schreckgestalt, die uns mit großer Furcht erfüllte. Diese sogenannten Hadern verkaufte er an Papiermühlen, die aus den textilen Fasern hochwertiges Papier herstellten. Schon die düstere Erscheinung des Mannes, dessen geflickte Kleidung vor Schmutz starrte, wirkte auf uns Kinder wenig vertrauenerweckend. Hörten wir dessen laut schallenden Ruf: “Der Lumpensammler ist da!” nahmen wir sprichwörtlich die Beine in die Hände und gaben Fersengeld. Kaum hatte er die Klinke zur nie versperrten Hoftür runtergedrückt, hatten wir uns auch schon im Haus hinter den bodenlangen, blickdichten Vorhängen im Wohnzimmer unserer Großeltern versteckt. Die Drohung mit dem Lumpensammler verfehlte ihre Wirkung nie, verwandelte quengelnde Gören blitzschnell in fromme Lämmer.

Doch brav sein ist schwer, und wenn ich mit meiner um zwei Jahre jüngeren Cousine Petra mit den älteren Nachbarskindern um die Häuser zog, war kein Kirschbaum vor uns sicher. Diese frühsommerlichen Verlockungen reckten vor den Einfamilienhäusern der Nachbarschaft ihre grünen Zweige in den mit Schäfchenwolken gesprenkelten Junihimmel. Besonders die saftigen Herzkirschen standen bei den Hausbesitzern in hoher Gunst, und sie zauberten daraus köstliche Marmeladen und Spuckkuchen.

In unserer Gasse lebte am Eck zum Wagram eine ältere Frau. Der Wagram ist eine der seltenen Straßen in meinem brettelebenen Heimatort, die sanft bergauf zum sogenannten Kalenderberg führt, dessen kühner Name wohl nur als Hohn für alle Bundesländer mit echten, hohen Bergen empfunden werden kann. Aber für uns Kinder bot er eine der wenigen Möglichkeiten, im damals noch schneereichen Winter einen kleinen Abhang hinunterzurodeln.

Doch eigentlich möchte ich euch vom Kirschbaum der alten Hexe erzählen. Alle nannten sie so insgeheim, denn die Kombination schwarzes Kopftuch und brauner Gehstock in Verbindung mit ihrem griesgrämigen Wesen und böser Miene, die einer Medusa zur Ehre gereichte, ließ ihre Beliebtheit auf einer Skala von eins bis zehn in die untersten Ränge rutschen. Natürlich war es streng verboten, von ihren Herzkirschen zu naschen. Aber wo kein Kläger, so auch kein Richter, dachten wir zumindest. Die Witwe musste sich hinter dem Fenster auf die Lauer gelegt haben, denn kaum hatten wir unsere kleinen Hände nach den Früchten ausgestreckt, kam sie schon laut schimpfend und Stock schwingend aus ihrer dunklen Einfahrt gelaufen. Wir Mädchen düsten rasch ums Eck, den Wagram hinauf, die keuchende Hexe zeternd hinterher. Doch nicht lange, denn die leichte Steigung forderte den Tribut der älteren, ungeübten Flachlandtirolerin, der bald die Puste ausging. Fortan machten wir einen großen Bogen um deren Kirschbaum, denn Omas Strafgewitter krachte ordentlich.

© Silvia Peiker 2022-03-26

Kindheitserinnerung

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