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#bühnenleben

Nur durch andere Augen sehn

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Nur durch andere Augen sehn | story.one

Jaques Brels Stimme schallt durch den Festsaal der Hochschule, seine ausdrucksvolle Stimme intoniert sein Chanson Les Vieux. Verträumt blicke ich durch die breite Glasfront in den verschneiten Vorgarten hinaus, verinnerliche eine Übung. Wir bemühen uns, ungelenke, bedächtige Bewegungen auszuführen. Unser Trainer, ein Theaterpädagoge, möchte, dass wir unsere meist noch recht jugendlichen Körper am besten in Lichtgeschwindigkeit altern lassen, wir sollen uns in den Habitus der Älteren einfühlen, deren Rücken das Leben gebeugt hat. Jahre später, da der Jungbrunnen versiegt ist, hätte ich weniger Schwierigkeiten, mich in diese Rolle einzuleben …

Ich erinnere mich, so als wäre es gestern gewesen, an diesen für mich so bereichernden Theaterworkshop. Und ich bedanke mich bei Christine Sollerer-Schnaiter für ihre schöne Erzählung über ihre Liebe zum Theater, die meine Lust an dieses Herantasten an mir fremde, ungewohnte Persönlichkeitsbilder wieder lebhaft ins Gedächtnis zurückgerufen hat.

Meinen Körper als Hülle zu betrachten, die sich wie ein luftiger Mantel über neue Identitäten stülpt, Gefühle zuzulassen, vor anderen preiszugeben, war für mich eine neue Erfahrung, die mir auch geholfen hat, für das Verhalten mancher Schulkinder in meiner Obhut, deren Charakter sich so gänzlich von meinem eigenen unterschieden hat, ein besseres Verständnis aufzubringen.

In Baden habe ich habe gelernt, nicht nur aufeinander zuzugehen, sondern auch auf andere einzugehen, sich auf Rätselhaftes, Unverständliches einzulassen. Mit den Augen des anderen die Welt zu betrachten, mit Verständnis Situationen zu überblicken, die ohne Fremdwahrnehmung ein Mysterium bleiben. Ich weiß jetzt, dass es keiner Enigma bedarf, um den chiffrierten Code meines Gegenübers zu knacken.

Spielerisch taste ich mich als Aktrice ans Darstellende Spiel heran, erfahre, dass dieses spezielle Genre im Gegensatz zu den meisten Theateraufführungen gänzlich ohne Auswendiglernen von Texten auskommt. Hier baut man auf Inspiration und Improvisation auf, die beste Möglichkeit, um Kindern am Nachmittag nach dem anstrengenden Schulvormittag einen kreativen und zugleich spielerischen Ausgleich anzubieten.

Am meisten gelacht haben wir bei einer improvisierten Kurzfassung des Hamlets, bei dem zu guter Letzt alle Schauspieler ums Leben kommen. Ich mime den Prinzen, der jedes Mal, wenn er in Aktion tritt, seine Haartolle zurückwirft. Philomena hat einen Klumpfuß, die Königin Schluckauf, der Geist des Königs kichert ständig. Bei dieser recht eigenwilligen Interpretation des Shakespeare Stücks fällt auf, dass Sterben auf der Bühne durchaus komisch sein kann. Völlig ungewohnt ist hingegen für mich das Einstimmen auf unbelebte Gegenstände. Ich identifiziere mich mit dem Heizkörper, will ihn zum Glühen zu bringen, um dem riesigen Saal, auf dessen Bühne wir performen, Wärme zu schenken.

Dank an Sam Moqadam für das tolle Foto!

© Silvia Peiker 2021-02-25

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