Odyssee mit Schulkindern
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Immer mehr graue Wolken türmten sich am dunklen Himmelszelt, als Michelles Klasse, die ich als Begleitperson ins Kunsthaus zur Hundertwasserausstellung begleitet hatte, mit einiger Verspätung den Bahnhof verließ, um zurück zur Volksschule zu eilen. Der Schulbus war in der Zwischenzeit schon längst abgefahren und ich versprach der Lehrerin, drei gestrandete Schulkinder sicher nach Hause zu bringen.
Bald saßen vier aufgeregt schnatternde Kinder in meinem geräumigen Kombi. Zuerst wollten wir Esra heimbringen, sie wohnte ja direkt an der Bundesstraße. Da die Türglocke kaputt war, pochte ich lautstark gegen das Blech des hohen Gartentores, leider erfolglos. Niemand kam, um der kleinen Schülerin Einlass zu gewähren. Da die Fenster der Küche zum Garten hinausgingen, hatte Esras Mutter wahrscheinlich nichts vom Radau bemerkt. Das Mädchen erklärte mir, die Haustür sei stets offen und sie wäre es gewohnt, über die Steinmauer ins Hofinnere zu klettern. Gesagt, getan. Mit Hilfe einer Räuberleiter war Esra im Nu hinter dem Zaun verschwunden und bald schon öffnete mir eine dankbare Mutter das Tor.
Nun folgte David, er sollte bei der Tagesmutter abgeliefert werden. Das Donnergrollen rückte immer näher, der Briefkasten der Frau quoll über, keine Antwort auf mein Klingeln. Das bestätigte mir, dass das Haus schon längere Zeit verwaist war. Als ehemalige Kollegin kannte ich die Telefonnummer der Kinderbetreuerin und mein Verdacht bestätigte sich: Susannes Seele schaukelte gerade im wohlverdienten Urlaub! David hatte vergessen, dass er diese Woche ausnahmsweise bei den Eltern nach der Schule logierte.
Während des Telefonats hatte der Himmel seine Schleusen geöffnet und rund um das Auto gingen wahre Sturzbäche nieder. An ein Weiterfahren war jetzt nicht zu denken. Ich zermarterte mir schon den Kopf, ob ich so, wie einst Odysseus Poseidon, die Wetterfrösche gegen mich aufgebracht hatte.
Unsere unfreiwillige Rast störte die muntere Schar im Heck jedoch wenig, nur ich war nervös, da ja meine anderen beiden Kinder auch bald heimkommen sollten und auch dort niemand daheim war. Nach einem kurzen Ich-seh-ich-seh-was-du-nicht-siehst - zum Entdecken gab es ja aufgrund der grauen Wassermassen nur wenig - rollte ich langsam mit dem Auto zu Davids Wohnadresse, die nur ein paar Gassen entfernt war.
Nun wollte nur noch ein kleiner Racker nach Hause gebracht werden, und bis zu seinem Domizil war es nicht sehr weit. Doch auch hier wieder Fehlanzeige, niemand öffnete uns, so wie bei der Herbergssuche, die Tür. Glücklicherweise kannte Fabian die Handynummer seines Vaters auswendig und ich konnte ihm eine Nachricht auf der Mailbox hinterlassen.
Draußen prasselten noch etliche Tropfen in unsere Regentonne, als wir mit unserem Gast beim Mittagstisch saßen. In Gedanken sah ich schon die Polizei mit Blaulicht vorfahren, um den gekidnappten Burschen abzuholen. Endlich der erlösende Rückruf des Vaters - die Irrfahrt war zu Ende!
© Silvia Peiker 2020-10-07
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