Schuldig im Sinne der Anklage
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Unser Kater Flecki hatte zwar unsere Haustiere, die Degus, verschont, aber Eidechsen und Mäuse, denen er im Freien auflauerte, stellten eine begehrte Beute dar. Wie das Amen im Gebet brachte er seinen meist noch lebendigen Fang nach Hause, wo ich zur Retterin der flinken Eidechsen avancierte. Denn durch das Abwerfen ihrer Schwänze, die sich danach noch lebhaft auf dem Boden schlängelten, konnte der geschickte Jäger so weit abgelenkt werden, dass ich die verschreckten Tiere einfangen und wieder in den Garten bringen konnte.
Tote Mäuse aber versteckte Flecki mit Vorliebe unter der Matte vor der Terrassentür. An einem schwülen Tag Mitte Juni war ich gerade mit Unkrautjäten im Garten beschäftigt, als ich das Bimmeln meines Festnetztelefons durch die offene Terrassentür hörte. Da ich einen wichtigen Anruf erwartete, beeilte ich mich, ins Haus zu gelangen. In meiner Hektik übersah ich jedoch die leichte Wölbung unter dem Fleckerlteppich, der zum Schuhabstreifen vor der Glastür lag. Ich trug an diesem Vormittag Clogs, was mir noch zum Verhängnis werden sollte.
Denn als ich auf den Mäusekadaver, der sich unter der Matte verbarg, meinen Fuß setzte, kippte dieser leicht zur Seite. Gleichzeitig stieß mein linker Schuh gegen den niedrigen Türrahmen zwischen Terrasse und Wohnzimmerparkett, wodurch mein Clog in hohem Bogen in den Raum hinein katapultiert wurde. Ich selbst konnte das Gleichgewicht nicht mehr halten, stürzte ebenfalls, wie schon der Schlapfen zuvor, mit dem Kopf voran über die Schwelle ins Wohnzimmer, wobei ich ungebremst gegen das Bücherregal prallte.
Meine unfreiwillige Reise war damit aber noch nicht zu Ende, denn der Clog, der mir ja vorausgereist war, sollte zur nächsten Hürde auf meinem unfreiwilligen Hindernisparcours werden. Ich hatte noch immer genügend Schwung und taumelte mit dröhnenden Ohren und Sternchen vor den Augen noch ein paar Schritte weiter, wobei ich zu guter Letzt über den verflixten Schuh stolperte.
Dieses Mal landete ich unsanft auf dem harten Parkett. Da lag ich nun der Länge nach, das Klingeln des Telefons war längst verstummt, dafür klingelte es lautstark in meinen Ohren. Wie in einem Stummfilm, der zu schnell abgespielt wird, war ich, dank des Jagderfolgs meines Katers, mit dem Kopf voran wie ein betrunkener Matrose ohne Kompass durch das geräumige Wohnzimmer gesegelt. Leicht benommen wankte ich zur Couch, um mich von meiner unfreiwilligen Tal- und Wiesenfahrt zu erholen. Mein Schädel brummte wie verrückt, Mäuse tanzten vor meinen Augen und plötzlich spürte ich ein warmes Rinnsal im Nacken, das den hellen Stoff meines Sommerkleids rot färbte. Drei Stiche später grübelte ich noch immer über die Frage der Krankenschwester im Unfallspital nach:
“Und diese Verletzung haben Sie sich wirklich ohne Fremdeinwirkung zugezogen?“
Wenn man das Stolpern über eine gut verborgene, tote Maus als Fremdeinwirkung bezeichnen kann, dann war der Kater wohl schuldig im Sinne der Anklage.
© Silvia Peiker 2020-09-28
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