skip to main content

#alltagsheldinnen

Stehaufweibchen

  • 99
Stehaufweibchen | story.one

Meine Tante Maria hat das Herz am rechten Fleck. Wie durch ein Wunder hat sie einen schweren Autounfall am Braunsberg bei Hainburg überlebt. Mein Onkel Fredi, der in Wien als Taxichauffeur so manchen illustren Gast durch die Wiener City kutschiert hat, war mit meiner Tante zum Plateau des Kogels hinaufgefahren, um das herrliche Panorama auf die Hundsheimer Berge, den breiten, sich schlängelnden Donaustrom und die Stadt Bratislava zu genießen.

Bei der Talfahrt auf der engen, kurvigen Bergstraße zum nahen Bergbad blendeten die hellen Strahlen der heißen Augustsonne den erfahrenen Berufsfahrer dermaßen, dass er ein entgegenkommendes Gefährt auf seiner Fahrspur erst viel zu spät wahrnahm, das Lenkrad, um einer drohenden Kollision zu entgehen, verriss, und mit dem Opel über den Rand der Böschung segelte.

Während das Taxi abstürzte und sich in der Luft drehte, wurde meine schlanke Tante in hohem Bogen durch das offene Seitenfenster hinauskatapultiert. Mein Onkel hatte sich an das Lenkrad geklammert und war sprichwörtlich mit einem blauen Auge und schweren Prellungen davongekommen.

Tante Maria aber lag rücklings auf der Wiese, der Aufprall hatte ihr förmlich die Luft aus den Lungen gepresst, sie konnte sich nicht bewegen. Einer zufällig vorbeikommenden Krankenschwester ist es zu verdanken, dass sie nicht gelähmt ist, denn durch den schweren Sturz waren mehrere Rückenwirbel zerbrochen.

Nach monatelangem Tragen von Gips- und Stützmieder und ihrem unerschütterlichen Glauben an ihre vollkommene Genesung konnte die Leidgeprüfte wieder in ihren Lieblingsberuf als Kindergartenassistentin zurückkehren. Bis die hart arbeitende Frau ein erneuter Schicksalsschlag mit voller Wucht am Kopf traf.

Es war gerade Wochenende, als sich scheinbar das unermüdliche Dröhnen eines Presslufthammers in Tante Marias Schädel hineinbohrte. Kein Medikament aus der Hausapotheke vermochte die Pein zu lindern und der herbeigerufene Notarzt wusste auch keinen Rat.

Onkel Fredi erreichte schließlich seinen Hausarzt, der den Ernst der Lage erkannte und meine Tante rechtzeitig mit Blaulicht und Folgetonhorn ins Krankenhaus schickte. Sie hatte einen Gehirnschlag erlitten, der eine lebensrettende Operation notwendig machte. Mit knapper Not zwar überlebt, aber als bittere Konsequenz setzte ihr fortan jeder Witterungswechsel zu und die Gliedmaßen der linken Körperhälfte erholten sich niemals wieder vollständig von den anfänglichen Lähmungserscheinungen.

Trotz allem ist Tante Maria mit ihren 88 Jahren geistig fit und rege und eine Kämpfernatur. Die Widrigkeiten des Lebens konnten das Stehaufweibchen trotz ihrer körperlichen Gebrechen niemals bezwingen. An manchen Tagen, wenn es überall zwickt und zwackt, rettet sie sich mit folgenden, aufmunternden Worten aus dem schmerzhaften Stimmungstief:

“Wenn es gar nicht mehr geht, dann packe ich meine Haare am Scheitel und ziehe mich selbst aus dem Sumpf!“

© Silvia Peiker 2020-11-04

#alltagsheldInnen

Kommentare

Gehöre zu den Ersten, die die Geschichte kommentieren

Jede*r Autor*in freut sich über Feedback! Registriere dich kostenlos,
um einen Kommentar zu hinterlassen.