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Wer hat Angst vor Virginia Woolf?

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Wer hat Angst vor Virginia Woolf? | story.one

Elizabeth verliert ihr Herz an dich und im Handumdrehen erklimmst du die Karriereleiter und bist Schatzmeister der Königin. Jung, reich, attraktiv und von der Muse geküsst liegst du plötzlich im Wettstreit mit einem der besten Dichter der Aufklärung. Die Frauen liegen dir zu Füßen und gemeinsam mit einer russischen Prinzessin flitzt du frisch verliebt auf Kufen durch die unheilschwangere Londoner Nacht und ritzt verschnörkelte Bahnen in die dicke Eisschicht der Themse.

Ein gebrochenes Herz später fällst du in Konstantinopel in einen tiefen Schlummer, aus dem du zur Verwunderung aller als Frau erwachst. Du blickst erstaunt in den Spiegel und erkennst, dass zwei wohlgeformte Brüste deinen Oberkörper zieren und deiner einst so flachen Männerbrust den Garaus machen. Der plötzliche Wechsel deines Geschlechts verblüfft dich am meisten von allen, denn wie durch Zauberhand werden nun zwei gar nicht so unterschiedliche Gender in deinem nun weiblichen Körper vereint.

Nun bist du in der glücklichen Lage, die Stärken deiner femininen und maskulinen Seite zu nutzen, und mit Leichtigkeit gelingt es dir, bei den Vertretern der männlichen Spezies Leidenschaft zu entfachen und Liebe zu schenken. Denn wer, wenn nicht du, weiß, wie Männer ticken und was Frauenherzen begehren.

Nachdem du dein Leben bar jeglicher gesellschaftlicher Konventionen mit Zigeunern beendet hast, musst du nach deiner Rückkehr auf die Insel feststellen, dass es für eine Edelfrau unter der Regentschaft von Queen Anne unmöglich scheint, ein eigenes Schloss mit Ländereien zu besitzen. Nach einem langen Rechtsstreit zu deinen Gunsten ehelichst du einen Seemann und wirst Mutter eines Sohnes. Wieder erwacht dein Faible für Literatur. Der Reigen von 350 Jahren, in denen du Abenteuer bestanden und deine Männlichkeit gegen Weiblichkeit eingetauscht hast, haben keine Spuren an deinem jugendlichen Aussehen hinterlassen. Du bist in der Zeit gefangen und gleichzeitig überdauerst du die Jahrhunderte.

Virginia Woolf, die selbst an vorderster Front für die Rechte der Frauen im patriarchalisch geprägten viktorianischen Zeitalter kämpfte, lässt ihren androgynen Protagonisten Orlando seine maskuline Hülle wie einen zu eng gewordenen Kokon abstreifen und ersetzt diesen durch pure Weiblichkeit. So wie im Theaterstück von Edward Albee fokussiert die Autorin in ihrem Meisterwerk ORLANDO die Geschlechterrolle. Das Buch ist eine Hommage an ihre Gefährtin Vita Sackville-West. In Form einer Zeitreise hinterfragt sie das schwierige Verhältnis ihrer Geschlechtsgenossinnen zur Literatur und deren gesellschaftliche Stellung.

Verblüfft lese ich wieder den ersten Satz des Meisterwerkes und vertiefe mich in Orlandos fiktive und ungewöhnliche Lebensgeschichte:

“He--for there could be no doubt of his sex, though the fashion of the time did something to disguise it--was in the act of slicing at the head of a Moor which swung from the rafters.”

© Silvia Peiker 2021-11-29

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