Achtsamkeit mal anders
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Ich habe es erneut getan, bin wieder verreist. Es ist nach Albanien gegangen. Hier gibt es Kultur, Berge und Meer – wie für mich gemacht.
Die Abreise gestern vom Wiener Flughafen war ein absoluter Schock. Der Terminal 3, der einzige, der momentan abfertigt, völlig leer. Ob das gut geht? Keine Ahnung – hat echt schlimm ausgesehen. Während im Dezember hier noch voller Betrieb war, hat der Mai eher an ein Endzeitszenarium erinnert. Viele leergeräumte Läden – weg für immer.
Ankunft spät nachts in Tirana. Mit dem Taxi zum Hotel. Geschwindigkeitsbegrenzungen sind etwas für Weicheier. Bei Tempolimit 60 schwingt die Tachometernadel auf 120. Der Hotel-Rezeptionist spricht mich auf Deutsch an, hat lange Zeit in Sachsen-Anhalt gelebt. Er sagt, dass er physisch ein Albaner ist, aber geistig ein Deutscher. Er mag die klare Strukturiertheit und dass sie viel arbeiten. Blond und blauäugig gefällt ihm, sagt er zu mir lächelnd.
Erneut mit dem Taxi zum Flughafen, um meinen Leihwagen entgegenzunehmen. Ich biege in eine nicht asphaltierte Straße. Keine gute Idee, viele Schlaglöcher. Plötzlich bin ich von Schafen umzingelt. Ein Mann mit geschätzten drei Zähnen gibt mir zu verstehen, dass ich besser zurückfahren sollte.
Nun plane ich die Hauptstadt Tirana zu besichtigen. Nichts für schwache Nerven. Verkehrsregeln? Gibt es nicht. Jeder fährt kreuz und quer, auf zwei Spuren machen sich drei Autos breit, Radfahrer tauchen aus dem Nichts auf, Fußgänger leben gefährlich. Motorradfahrer teilweise ohne Helm, manche telefonieren sogar während der Fahrt mit dem Handy.
Ich lerne eine neue Art der Achtsamkeit.
Nach 1 Stunde höchster Konzentration endlich eine Parklücke. Ich kann losgehen. Beim Fragen nach dem Weg die mir bekannten verwunderten Blicke, warum ich zu Fuß gehe. Ich, Alien, Beine zum Gehen.
Zwischenstopp auf einen frisch gepressten Granatapfelsaft. Lecker und erfrischend. Hier haben alle Läden geöffnet, egal ob Gastronomie, Märkte oder Shops.
Ach ja, Masken. Laut Bundesministerium ist hier überall, egal ob im Freien oder drinnen, Maskenpflicht. Echt? Zu 80 % trägt man hier „en naturelle“. Ein paar haben einen neuen Modetrend kreiert – Maske unter dem Kinn. Nennt sich nicht Kinnlade, sondern Kinnmaske. Dann gibt es noch das Modell „Nase frei“ und etwa 5 % sind tatsächlich maskiert.
Am Hauptplatz endlich reichlich Motive zum Ablichten. Der Rest der Stadt ist ehrlich gesagt nicht so fotogen. Ich werde von einem jungen Mann auf Deutsch angesprochen. Meine blonden Haare haben mich verraten. Er lebte bis vor kurzem in Deutschland, hat durch Corona seinen Job verloren und ist nun zurückgekehrt. Albaner verdienen im Schnitt €400. Lebensmittel wie Öl oder Zucker sind teurer als in Deutschland. Die ausgewanderten Kinder schicken hier regelmäßig den Eltern Geld. Ansonsten könnte man hier nicht überleben. Ich bin bestürzt.
Wir verbinden uns über Instagram. Er gibt mir zum Abschied die Hand. Ein fast ungewohnter Akt des Menschseins.
© Sylvia Eugenie Huber 2021-05-11
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