Liebesbrief an Chios
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Geliebtes Chios, jetzt, wo ich dich wieder verlasse, denke ich wehmütig an die erlebnisreichen Momente, die du mir beschert hast. Eigentlich suchte ich nur etwas Erholung und Abstand zum Alltag, wollte ‘mal eine Woche Auszeit nehmen und fand dann so erstaunlich viel mehr.
Die Wanderung in Armólia hat mir meine körperlichen Grenzen aufgezeigt. Meine ungeplante Klettertour hinterließ Schrammen und Hämatome, doch konnte ich danach die Aussicht der Ruine genießen.
Im Malagkitios-Tal ging ich stundenlang berauscht durch die Schönheit der Natur bergab, um dann irgendwann festzustellen, dass ich alles wieder bergaufgehen müsste. Die Mittagshitze unterschätze ich ebenso wie die Steigung, doch die gemeisterte Anstrengung erfüllte mich mit enormer Freude.
Ich besuchte unzählige Klöster, obwohl schon lange aus der Kirche ausgetreten und fühlte mich dadurch Gott wieder näher. Die atemberaubende Schönheit jener ließ mich oft nur mit offenem Mund im Eingangsbereich verharren und staunen. Ich bezweifle zwar, dass diese Bauten vonnöten sind, um an eine höhere Macht zu glauben, nichtsdestotrotz ist ihr Anblick beeindruckend.
Als mich die Navigation durch eine schmale Gasse führte, in der ich fast steckenblieb, war ich so verzweifelt, dass ich zu weinen begann und am Körper zitterte. Mit heruntergelassenen Scheiben und angeklappten Spiegeln ließ ich das Auto zentimeterweise nach vorrollen. Ich hatte in diesem Augenblick Angst, war allein, weit und breit niemand zu sehen.
Aber ganz allein war ich dann wohl doch nicht, denn irgendetwas stand mir bei, führte mich durch die Angst und ließ mich eine weitere Prüfung bestehen. Für einen kurzen Moment zweifelte ich an der Bereicherung von Einsamkeit. Doch nur einen kurzen Moment, denn die andere Zeit über genoss ich die Ruhe von Gequassel, Radio oder Verkehr. Obwohl die Natur selbst nicht still ist, gibt es einen nicht zu unterschätzenden Lärmpegel durch Vögel, Grillen oder stürmischen Wind. Doch komischerweise wird das von den wenigsten als unangenehm empfunden, sondern eher als eine harmonische Untermalung.
Die unterschiedlichen Landschaften zeigten mir die Vielfalt des Lebens auf. Während es im Westen grün war, wiesen Gegenden des Nordens eine vollkommene Kargheit auf. Die Natur hält so viel Beeindruckendes bereit, das wir oft vergessen oder nicht mehr wahrnehmen.
In Olýmpoi saß ich auf einer Bank und ließ die alten Mauern des mittelalterlichen Ortes auf mich einwirken, als eine ältere Dame neben mir Platz nahm und fragte, ob ich allein reiste und sagte „It’s the best to travel alone“. Dem kann ich nur zustimmen.
Die viele Zeit mit mir allein und die Herausforderungen dort haben sehr viel in mir bewegt. Es hat mir ein verloren gegangenes Urvertrauen zurückgeschenkt, man könnte es fast Gottvertrauen nennen. Dafür liebes Chios möchte ich dir unglaublich danken! Du wirst mir dadurch immer in Erinnerung bleiben, mich ins Schwärmen geraten lassen und mit Freude erfüllen.
© Sylvia Eugenie Huber 2021-01-25
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