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Zwang

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Zwang | story.one

Bei meiner Geburt maß ich 57cm und brachte 3,95kg auf die Waage, was für ein Mädchen im Jahre 1975 eher außergewöhnlich war, wie mir von meiner Mutter berichtet wurde. Da ich mir 3 Tage länger als errechnet Zeit ließ als auch aufgrund meiner enormen Größe, musste ich allerdings sectioniert werden.

Als Baby war ich eine sehr gute Esserin und benötigte die doppelte der empfohlenen Menge an Milchersatz, um ruhig gestellt zu werden. Gesund und kräftig sah ich aus und wuchs auch rasch heran. Aber je älter ich wurde, umso geringer wurde der anfänglich schier nicht endende Appetit – ich vermute, dass ich einfach satt war und mein angeborener Instinkt gut funktionierte. Meinen Eltern, konkret meiner Mutter, gefiel dies aber gar nicht. Wahrscheinlich machte sie sich Sorgen, stammte sie, 1937 geboren, noch jener Kriegsgeneration ab, welche mit Bombenalarm und wenig Essen aufwuchs.

„Du bleibst so lange sitzen, bis der Teller leer ist“, schallt es noch heute ab und zu in meinen Ohren, obwohl beide Elternteile bereits verstorben sind. Ihre eiserne Konsequenz an schönen Nachmittagen, die ich lieber mit Spielen verbracht hätte, ist ebenso in meiner Erinnerung. Bekennend war ich schon damals ein sturer Widder und nach 1 bis 1 ½ Stunden gewann oft ich den Kampf und der Teller blieb halbvoll und landete im Müll.

Allerdings kann man jeden Menschen brechen, es ist nur eine Frage der Zeit. Denn als ich wieder einmal nach über einer Stunde vor einem halbvollen Teller saß und meine Taktik nicht so erfolgreich schien, würgte ich angeekelt die kalten Speisen hinunter, um endlich den Tisch verlassen zu dürfen. Und kurz darauf geschah es – ich musste mich übergeben und das Essen landete in der Toilette.

Wie unendlich oft wurde ich als undankbar bezeichnet, wo doch jedes afrikanische Kind so gerne meinen Platz eingenommen hätte. Auch bei Aufeinandertreffen mit Freunden oder Verwandten war die schlechte Esserin Sylvia ein beliebtes Thema, welches man neben mir austrug. Ich denke, dass heutzutage Psychologen Eltern von solchen Taktiken tunlichst abraten würden.

Der ewige Druck und Zwang führten dazu, dass ich mir überlegte, wie ich diese Tiraden nicht mehr über mich ergehen lassen musste. Die glänzende Idee ließ nicht lange auf sich warten – ich begann schnell zu essen, wenig zu kauen und schluckte einfach hinunter. Und siehe da, plötzlich konnte ich den Teller leerputzen und bekam Lob bzw. später ließ man mich endlich in Ruhe.

Mein ganzes Leben lang kämpfte ich mit meinem Gewicht, abnehmen fiel mir immer schwer, da das antrainierte Essverhalten bei Stress erneut aufflackerte. Vom niedrigsten Gewicht von 53kg bis zum höchsten von 73kg war alles dabei. Fastenkuren und Detoxing halfen mir kleine Portionen langsam unter viel Kauen zu essen. Meine Beziehung zum Essen war oftmals schwierig und ist es manchmal jetzt noch.

Etwas ganz Wichtiges konnte ich aber bei all dem lernen – Zwang ist definitiv immer der falsche Weg!

Bildnachweis: stevepb auf Pixabay

© Sylvia Eugenie Huber 2021-11-19

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